Das Product Operating Model: Der Schlüssel für Innovation und Agilität
Wie schaffen es Unternehmen wie Amazon, Apple oder Tesla immer wieder, mit bahnbrechenden Innovationen den Markt aufzumischen? Und das in einer Geschwindigkeit, bei der andere Unternehmen nur staunend zuschauen können? In seinem Buch "TRANSFORMED" liefert der Silicon Valley Produktmanagement-Experte Marty Cagan eine Antwort: Das Geheimnis liegt im sogenannten "Product Operating Model".
Das Product Operating Model ist ein Framework, das Unternehmen dabei hilft, ihre Produktentwicklung strategischer, kundenorientierter und agiler zu gestalten. Es besteht aus drei Kernelementen: Delivery, Discovery und Direction. Jedes dieser Elemente adressiert eine zentrale Herausforderung, mit der Unternehmen heute konfrontiert sind.
Doch was genau verbirgt sich hinter diesen Begriffen? Sohrab Salimi, ein erfahrener Berater und Coach für agile Produktentwicklung, arbeitet seit Jahren eng mit Marty Cagan zusammen und implementiert dessen Product Operating Model erfolgreich in der Praxis. Ein besonderes Highlight waren auch die Agile Insights Conversations mit Marty, die wertvolle Einblicke in seine Methoden und Ansätze lieferte.
Hier geht es zu den Agile Insights Conversations mit Marty und Sohrab:
https://youtu.be/RPHZO-ckDWA?si=zpeKxzPM-d9GINlG
https://youtu.be/k1JMyN3X5yw?feature=shared
In seinem Talk im Rahmen des Product Owner Day 2024 erläutert er die Kernelemente und zeigt, wie Unternehmen sie in der Praxis umsetzen können.
Die Kernelemente des Product Operating Models
Wie Sohrab erläutert, besteht das Product Operating Model im Kern aus drei Elementen: Delivery, Discovery und Direction. Jedes davon adressiert eine zentrale Frage, die sich Unternehmen stellen müssen, um innovativ und agil zu bleiben.
Delivery: Wie stellen wir sicher, dass unsere Produkte effektiv und effizient entwickelt und bereitgestellt werden?
Das erste Element "Delivery" dreht sich um die Fähigkeit, kontinuierlich Wert für den Kunden zu liefern - und zwar in möglichst kurzen Zyklen. Wie Sohrab unterstreicht, ist das die Grundvoraussetzung für Innovationskraft und Anpassungsfähigkeit. Doch viele Unternehmen tun sich schwer damit, ihre oft langen Release-Zyklen zu verkürzen.
Dabei ist es gar nicht so schwer: Es braucht primär kleine, cross-funktionale und selbstorganisierte Teams, die in ihrer Wertschöpfungskette von der Idee bis zur Auslieferung möglichst wenig Abhängigkeiten und Übergabepunkte haben. Zudem benötigen sie das Vertrauen und die Befugnis, eigenständig Entscheidungen zu treffen. Doch genau daran hapert es oft, wie Sohrab aus seiner Beratungspraxis weiß.
Ein Vorbild ist hier sicherlich Amazon mit seinen "Two Pizza Teams" - also Teams, die so klein sind, dass zwei amerikanische Pizzen reichen, um sie sattzubekommen. Solche Teams sind in der Lage, Produkte oder Features in wenigen Wochen von der Idee bis zur Auslieferung zu bringen. Möglich wird das aber nur, wenn die Teams auch die Freiräume und das Vertrauen haben, selbstständig zu entscheiden und zu handeln.
Wenn ihr mehr Insights über Amazon erfahren möchtet, empfehlen wir euch folgenden Artikel: https://www.agile-academy.com/de/agile-leader/die-10-wichtigsten-insights-aus-working-backwards-von-colin-bryar/
Ein weiteres Beispiel für effektive Delivery ist das Scrum-Framework, das explizit dafür entwickelt wurde, in kurzen Zyklen Mehrwert zu liefern. Durch Sprints, die meist zwei bis vier Wochen dauern, wird regelmäßig funktionierende Software geliefert. Dies erlaubt es Teams, schnell auf Feedback zu reagieren und kontinuierlich Verbesserungen vorzunehmen. Scrum fördert kleine, cross-funktionale Teams, die in engem Austausch mit Stakeholdern stehen und die Befugnis haben, eigenständig Entscheidungen zu treffen. Dies minimiert Abhängigkeiten und erhöht die Effizienz und Effektivität der Produktentwicklung.
Discovery: Wie identifizieren und validieren wir neue Produktideen und Lösungen, die den Bedürfnissen unserer Kunden entsprechen?
Mindestens genauso wichtig wie schnelle Lieferzyklen ist es, überhaupt erst mal die richtigen Probleme zu lösen. Genau darum dreht sich das zweite Element des Product Operating Models: Discovery.
Ziel ist es, durch kontinuierliche Interaktion mit Nutzern deren Bedürfnisse und Probleme zu verstehen und daraus die richtigen Lösungen abzuleiten.
Wie aber läuft dieser Prozess der Problemvalidierung und Lösungsfindung konkret ab? Sohrab erläutert, dass es verschiedene Methoden gibt, die sich in der Praxis bewährt haben:
- Kundeninterviews: Durch strukturierte Gespräche mit Nutzern können deren Bedürfnisse, Herausforderungen und Schmerzpunkte identifiziert werden. Wichtig ist dabei, nicht nur oberflächlich zu fragen, sondern tiefer zu bohren und auch die zugrunde liegenden Motive zu verstehen.
- Beobachtungen: Oft sagen Nutzer etwas anderes, als sie tatsächlich tun. Deshalb ist es wichtig, sie auch in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten. Wie gehen sie mit bestehenden Lösungen um? Wo hakt es im Prozess? Welche Workarounds haben sie entwickelt?
- Datenanalyse: Auch die Analyse von Nutzungsdaten kann wertvolle Erkenntnisse liefern. Wo brechen Nutzer ab? Welche Features werden intensiv genutzt, welche gar nicht? Muster und Anomalien in den Daten geben oft Hinweise auf unerfüllte Bedürfnisse.
- Prototyping: Anstatt viel Zeit in die Entwicklung einer perfekten Lösung zu investieren, setzen erfolgreiche Unternehmen auf schnelles Prototyping. Dadurch können sie früh im Prozess Feedback von echten Nutzern einholen und ihre Annahmen validieren oder falsifizieren.
Ein Beispiel für exzellente Discovery-Arbeit ist der Entwicklungsprozess des Amazon Kindle. Anstatt einfach einen E-Book-Reader auf den Markt zu bringen, hat sich das Kindle-Team intensiv mit den Bedürfnissen und Frustrationen von Lesern beschäftigt. Durch unzählige Kundeninterviews und Beobachtungen erkannten sie, dass die Nutzer vor allem ein nahtloses, papierähnliches Leseerlebnis wollten. Daraus entstanden dann Funktionen wie das spezielle E-Ink-Display, die Hintergrundbeleuchtung und die direkte Integration des Kindle Stores.
Doch Discovery ist kein einmaliger Prozess, sondern eine kontinuierliche Aufgabe. Wie Sohrab betont, sind die Product Manager in den besten Unternehmen fast täglich im Austausch mit Kunden - sei es durch Interviews, Beobachtungen oder andere Formate. Manche Unternehmen messen sogar die Anzahl der Kundenkontakte pro Woche, um sicherzustellen, dass diese Interaktion auch wirklich stattfindet. Hinzu kommt: Selbst wenn man die Probleme der Nutzer kennt, ist es eine Kunst, die richtigen Lösungen dafür zu finden. Dafür braucht es den Mut, auch mal etwas Neues auszuprobieren und kreativ zu sein.
Laut Sohrab loten Unternehmen wie Amazon, Apple oder Google ständig die Grenzen des Machbaren aus. Sie sind bereit, auch ihre eigenen Cash Cows zu kannibalisieren, wenn es darum geht, Kunden einen neuen Mehrwert zu bieten. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Ablösung des iPods durch das iPhone bei Apple. Dafür braucht es eine Kultur, die Experimentierfreude und Risikobereitschaft fördert.
Direction: Wie definieren und kommunizieren wir die strategische Richtung und Prioritäten für unsere Produktentwicklung?
Doch woher wissen die Teams eigentlich, in welche Richtung sie sich entwickeln sollen? Hier kommt die dritte Komponente des Product Operating Models ins Spiel: Direction.
Wie Sohrab erläutert, ist es eine der wichtigsten Aufgaben von Führungskräften, die strategische Richtung vorzugeben und den größeren Kontext zu setzen. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die verschiedenen Teams und Initiativen nicht aneinander vorbei, sondern in die gleiche Richtung arbeiten.
Aber wie genau geben Führungskräfte diese strategische Richtung vor? Sohrab nennt hier verschiedene Formate und Prozesse, die sich in der Praxis bewährt haben:
- Produktvision und -strategie: Am Anfang steht die Entwicklung einer klaren und inspirierenden Produktvision. Sie beschreibt, wohin die Reise gehen soll und welchen Nutzen das Produkt für die Kunden und das Unternehmen stiften soll. Daraus abgeleitet wird eine Produktstrategie, die den Weg zur Realisierung der Vision skizziert.
- Objectives and Key Results (OKRs): Viele Unternehmen nutzen OKRs, um die Produktstrategie in konkrete, messbare Ziele zu übersetzen. Dabei werden auf Unternehmens- und Teamebene Objectives (Ziele) definiert, die durch Key Results (Ergebnisse) messbar gemacht werden. Die OKRs dienen als Orientierungsrahmen und stellen sicher, dass alle in die gleiche Richtung arbeiten.
- Roadmaps: Produktroadmaps sind ein wichtiges Instrument, um die Produktstrategie zu kommunizieren und die Entwicklungsaktivitäten zu koordinieren. Anders als früher sind Roadmaps heute jedoch keine starren Mehrjahrespläne mehr. Stattdessen werden sie regelmäßig angepasst und dienen vor allem dazu, die nächsten Schritte und Prioritäten zu visualisieren.
- Regelmäßige Alignment-Meetings: Um sicherzustellen, dass die Teams kontinuierlich an den strategischen Zielen ausgerichtet sind, haben sich regelmäßige Alignment-Meetings bewährt. Hier kommen die Führungskräfte und Produktteams zusammen, um sich über den Fortschritt, Hindernisse und nächste Schritte auszutauschen.
Doch ebenso wichtig wie die Vorgabe der strategischen Richtung ist es, Entscheidungen zu dezentralisieren und dorthin zu verlagern, wo das Wissen und die Nähe zum Kunden am größten sind. Denn die Zeiten, in denen die Chefetage in ihrem Elfenbeinturm entscheidet, was die Kunden wollen, sind längst vorbei. Stattdessen müssen die Teams befähigt werden, selbst zu entscheiden, wie sie die Unternehmensziele am besten erreichen.
Ein Beispiel dafür ist die Produktentwicklung bei Amazon. Das Unternehmen arbeitet mit dem Konzept von Type 1 und Type 2 Entscheidungen. Type 1 Entscheidungen sind große, strategische Entscheidungen, die schwer umkehrbar sind und daher von der Führungsebene getroffen werden. Type 2 Entscheidungen hingegen sind kleinere, taktische Entscheidungen, die leicht revidiert werden können und daher dezentralisiert getroffen werden.
Doch die Dezentralisierung von Entscheidungen setzt voraus, dass die Mitarbeiter den nötigen Kontext und die richtigen Fähigkeiten mitbringen. "Skalierung geschieht nicht durch Prozesse, sondern durch Menschen", bringt es Sohrab auf den Punkt. Deshalb müssen Führungskräfte primär eines tun: Die Mitarbeiter befähigen, indem sie ihnen den Kontext geben, die Kompetenzen vermitteln und den Mut machen, Verantwortung zu übernehmen.
Fazit: Das Product Operating Model ist kein Sprint, sondern ein Marathon
Die Implementierung eines Product Operating Models ist alles andere als trivial. Wie die Fallstudien in Marty Cagans Buch "TRANSFORMED" zeigen, handelt es sich um eine Transformation, die Jahre dauern kann. Denn es geht nicht nur darum, ein paar neue Rollen und Prozesse einzuführen. Vielmehr erfordert es einen tiefgreifenden Wandel in der Kultur, in der Mentalität und in den Fähigkeiten einer Organisation.
Doch der Aufwand lohnt sich, denn nur so können Unternehmen langfristig innovativ und kundenzentriert bleiben. Wie Sohrab betont, führt kein Weg daran vorbei: "Wer sich nicht transformiert, wird disruptiert." Deshalb sollten Unternehmen jetzt damit beginnen, sich Schritt für Schritt in Richtung eines Product Operating Models zu entwickeln.
Der erste Schritt ist dabei, ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Veränderung zu schaffen. Doch dann geht es darum, ins Machen zu kommen. Denn wie beim Thema Fitness gilt auch hier: Entscheidend ist nicht das Wissen, sondern die konsequente Umsetzung.
Wenn ihr tiefer in dieses Thema einsteigen wollt, eine 30-minütige Keynote kann nur einen ersten Überblick bieten, zögert nicht, unser Team zu kontaktieren. Wir stehen bereit, um euch mit weiteren Informationen und Unterstützung zu diesem Thema zu versorgen.