Produktmanagement vs. Produktmarketing

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Sohrab Salimi
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Branchenexperten behaupten, neun von zehn Produkt-Releases seien Misserfolge, da sie nicht die gewünschten Ziele erfüllen. Ich weiß nicht, ob das die offiziellen Zahlen sind, aber es wird sicherlich nah dran sein. Ich bin der festen Überzeugung, dass die meisten Releases schlecht durchdacht sind. Unzählige Release-Zyklen werden für Produkte verschwendet, die entweder nicht nützlich oder nicht nutzbar sind.

Es gibt viele Ursachen für diese schlechten Produkte und in jedem Artikel versuche ich, einen dieser Aspekte zu beleuchten. Meines Erachtens sind diese verschwendeten Releases allerdings hauptsächlich darauf zurückzuführen, wie die Rolle des Produktmanagers in einem Unternehmen definiert ist und welche Kompetenzen die Person hat, die man für diese Rolle auswählt.

Dieses Thema beschäftigt mich schon seit längerer Zeit, denn es ist ein äußerst wichtiges Thema und schließlich geht es dabei darum, wie der Job des Produktmanagers wirklich aussehen sollte. Diesen Artikel zu schreiben, ist nicht ganz einfach, denn ich weiß, wie schwierig es ist, nicht nur ein bestimmtes Rollenbild in einer Branche zu verändern, sondern auch die Terminologie zum Beschreiben dieser Rolle.

Terminologie

Bevor wir loslegen, werde ich zur Erläuterung des Problems ein paar Begriffe definieren müssen und es ist mir klar, dass diese Definitionen in vielen Unternehmen nicht der Wirklichkeit entsprechen. In erster Linie werde ich auf die Rolle des Produktmanagers eingehen, der dafür verantwortlich ist, im Detail das Produkt zu definieren, welches das Entwicklungsteam bauen soll. Die Funktion des Produktmarketings besteht darin, dieses Produkt in der Welt bekannt zu machen.

Im Folgenden erfahren Sie mehr über diese beiden sehr unterschiedlichen Rollen.

Ich möchte von Anfang an betonen, dass jedes Produkt einen einzigen verantwortlichen Produktmanager haben sollte, der für die Beschreibung des Produkts zuständig ist (Kombination aus Produktanforderungen und User Experience).

Jedoch finde ich leider sehr oft eine der folgenden Situationen vor, wenn ich in ein neues Unternehmen komme:

  1. Es gibt eine Person, deren Jobbezeichnung irgendetwas mit Produktmarketing oder Produktmanagement zu tun hat. Diese Person ist verantwortlich für die allgemeinen Produktanforderungen, die dann direkt in die Entwicklung gehen – ohne dass dabei auf detaillierte Produktanforderungen oder die vielen kniffligen Entscheidungen eingegangen wird, die damit einhergehen (oft wird auch das User Experience Design nicht mit einbezogen, aber darüber habe ich bereits in einigen früheren Artikeln geschrieben).
  2. Ein Verantwortlicher für das Produktmarketing (zuständig für die allgemeinen Geschäfts-/Produktanforderungen) und ein Produktmanager (zuständig für detaillierte Produktanforderungen) teilen sich die Verantwortung für die Definition des Produkts.
  3. Von einer einzigen Person aus dem Produktmarketing wird erwartet, sich beiden Rollen zu widmen (diese Rolle wird dann entweder mit “Produktmanagent” oder “Produktmarketing” betitelt).

Besprechen wir diese drei problematischen Situationen:

Das marketingorientierte Produkt

Diese Situation ist leicht zu erkennen. Der Rest des Teams sieht diese Person als “Marketing-Ressource” an, die bei der Erstellung von Datenblättern, der Schulung von Vertriebsmitarbeitern und Namens- sowie Preisfindung hilfreich ist. Beim Definieren des Produkts werden diese Personen aber nicht unbedingt zu Rate gezogen. Wir alle kennen diese Art von Produktmanagern – es gibt sogar einige Dilbert-Comics, die diese Rolle porträtieren. Diese Leute mögen vielleicht hervorragend sein, was das Marketing angeht, verrennen sich aber in Details sobald es darum geht, ein nützliches und nutzbares Produkt zu definieren. An diesem Punkt schreitet hoffentlich jemand anderes aus dem Produktteam ein und führt die wahre Funktion des Produktmanagers aus. Das kann einer der leitenden Entwickler, ein Designer oder ein Manager sein. Wenn diese Person über die nötigen Kompetenzen verfügt und genug Zeit hat, sich darum zu kümmern, kann das Produkt immer noch ein Erfolg werden. In den meisten Fällen hat das Produkt dann aber schon eine schlechte Ausgangsposition.

Als ich meinen ersten Kontakt mit dem Produktmanagement hatte, fand ich mich in genau solch einer Situation wieder und wollte daher anfänglich gar nichts mit dieser Rolle zu tun haben. Doch dann hat mir jemand gezeigt, worum es beim Produktmanagement wirklich geht. Danach wollte ich die Rolle umbenennen, fand aber bald heraus, dass das eine ganz eigene Herausforderung darstellte. Also habe ich stattdessen die erfolgreichen Produktmanager identifiziert und die Rolle um diese Personen herum neu definiert.

Zwei Personen, eine Rolle

Auch diese Situation ist leicht zu erkennen, da es keinen Product Owner gibt, der für alles zuständig ist. Eine Person aus dem Produktmarketing (in diesem Modell manchmal “Business Owner” genannt) ist für die allgemeinen Geschäftsanforderungen verantwortlich. Für die spezifischen Produktanforderungen ist ein Produktmanager verantwortlich. Das Problem dabei ist, dass keiner dieser beiden Personen der “Owner” des Produkts ist. Und das bedeutet, dass sich keiner der beiden wirklich für das Produkt verantwortlich fühlt und sich dementsprechend auch nicht so verhält. Außerdem basiert dieses Modell auf einer fragwürdigen Ansicht über Software, bei der davon ausgegangen wird, dass man allgemeine Produktanforderungen unabhängig von detaillierten Anforderungen und besonders der User Experience definieren kann. Bei diesem Modell erstellen die Produktmanager also hauptsächlich Spezifikationen und das ist wirklich ein frustrierender Job, durch den Innovationen unterdrückt werden und kaum erfolgreiche Produkte entstehen.

Viele größere Unternehmen mit vielen unterschiedlichen Unternehmensbereichen entwickeln sich in diese Richtung und wundern sich dann, warum sie keine innovativen Produkte mehr entwickeln können, von denen ihre Kunden begeistert sind.

Eine Person, zwei Rollen

Das Problem beim Verbinden von Produktmanagement und Produktmarketing ist, jemanden zu finden, der beide Jobs gleichzeitig ausführen kann. Jede der beiden Rollen ist elementar wichtig und erfordert besondere Kenntnisse und Fähigkeiten. Ein Produkt zu entwickeln ist nämlich etwas ganz anderes, als das Produkt zu vermarkten. Ich habe einige außergewöhnliche Menschen kennengelernt, die in beiden Rollen wirklich hervorragend sind, aber von diesen Leuten gibt es nur sehr wenige und ein solches Organisationsmodell stößt schnell an seine Grenzen. Außerdem ist die Rolle des Produktmanagers ein sehr anspruchsvoller Vollzeitjob und erfordert ein hohes Maß an Engagement (es sei denn, es handelt sich nur um ein wirklich simples Produkt). Auch wenn beispielsweise jemand aus dem Marketingbereich theoretisch die nötigen Voraussetzung für beide Jobs hat, ist es sehr unwahrscheinlich, dass derjenige wirklich in der Lage ist, sich diesen beiden Rollen gleichzeitig zu widmen.

Besonders bei Anbietern von Unternehmenssoftware ist das ein häufiges Problem. Die Unterstützung des Vertriebs an sich ist dort schon ein sehr umfassender Job und die Produktmanager tendieren dazu, einfach nur die (vermeintlichen) Anforderungen vom Kunden an die Vertriebsmitarbeiter, die Produktmanager und die Entwickler weiterzuleiten. Nützliche und brauchbare Produkte entstehen dabei so gut wie nie.

Fazit

Natürlich gibt es Gründe dafür, dass die oben genannten Modelle genutzt werden. Meiner Meinung nach bringen die Unternehmen jedoch größere Opfer, als ihnen bewusst ist. Sie verschwenden dabei ganze Release-Zyklen und entwickeln Produkte, die die Kunden entweder gar nicht wollen oder die nicht besonders benutzerfreundlich sind.

Die Lösung dieses Problems ist, die Funktion von Produktmanagement und Produktmarketing im Unternehmen klar zu definieren. Die Aufgabe des Produktmanagers ist es, das Produkt – möglichst detailliert – zu definieren und zu überprüfen, ob dieses Produkt auch gut bei echten Kunden und Nutzern ankommt. Derjenige, der für das Produktmarketing verantwortlich ist, muss das Produkt bekannt machen, die Produkteinführung managen, dem Vertrieb die nötigen Instrumente für die Vermarktung und den Verkauf des Produkts zur Verfügung stellen und wichtige Bereiche wie Online-Marketing und Influencer-Marketing anleiten.

Ich möchte darauf hinweisen, dass dieser Artikel nicht den Eindruck erwecken soll, die Rolle des Produktmarketings sei unwichtig, denn gutes Produktmarketing ist extrem wertvoll. Allerdings hat es einfach wenig mit der Rolle des Produktmanagers zu tun, die ich hier beschrieben habe.

Grundsätzlich sollten der Produktmanager und der Verantwortliche für das Marketing natürlich viel kommunizieren und auch gelegentlich bei bestimmten Themen zusammenarbeiten. Hauptsächlich gibt es jedoch zwei Arten von Interaktion: Zum einen ist der Marketingbeauftragte eine von verschiedensten Quellen für Input, auf die der Produktmanager beim Erstellen der Produktanforderungen zurückgreifen kann. Zum anderen wird auch der Produktmanager zu einer Input-Quelle für die Werbebotschaften des Produktmarketings.

Egal, um welches Organisationsmodell oder um welchen Titel es sich im Endeffekt handelt – ich kann Ihnen versichern, dass hinter jedem großartigen Produkt immer jemand steckt, der für die Definition dieses Produkts verantwortlich ist. Und denken Sie immer daran: Es ist vollkommen bedeutungslos, wie großartig Ihre Organisation ist, wenn Sie kein nützliches und brauchbares Produkt vorgeben, das entwickelt werden soll.