Wenn man zu viel Vertrauen hat

Foto von Sohrab Salimi
Sohrab Salimi
5 Min. Lesezeit

In Scrum und Agile wird viel mit Werten wie Vertrauen und Transparenz argumentiert. Auch die agile Transformation fokussiert sich meist vor allem auf das schaffen einer größeren Transparenz durch den Abbau von Hierarchien und Informationsinseln.

Ständig sprechen also alle davon, wie man Vertrauen aufbauen kann und welche Vorteile ein hohes Maß an Vertrauen hat. Was geschieht aber, wenn man zu viel Vertrauen hat? Kann man das haben? Und ist das gut oder schlecht?

Zur Veranschaulichung werde ich eine wahre Geschichte zu dem Thema erzählen, die mir einer meiner Kunden erzählt hat. Nennen wir ihn Sergey.

Vertrauen ist gut, Transparenz aber notwendig

Sergey ist fast fünfzig Jahre alt und der CEO und Mitgründer einer IT-Firma. Er ist schon über zwanzig Jahre Unternehmer und verfügt so nicht nur über viel Erfahrung und Wissen im Hinblick darauf, wie man Geld verdient, sondern auch im Hinblick darauf, wie man mit Menschen umgeht. Gleichzeitig hat er einen ganz besonderen Charakterzug. Er neigt dazu, Menschen zu vertrauen. Und manchmal neigt er dazu, Menschen zu sehr zu vertrauen.

Jede IT-Firma hat eine Vertriebsabteilung (zumindest wenn die Firma überleben möchte!). Diese Abteilung wird von jemandem geleitet, der die Verantwortung für die Kunden, die Abschlüsse und die Umsätze trägt. Natürlich gab es diese Position auch in Sergeys Firma. Sergey entschied sich, einen neuen Mitarbeiter für diese äußerst wichtige Position einzustellen. Nennen wir ihn Alexander.

Und hier fängt die Geschichte an.
Alexander war ein sehr kluger und ehrgeiziger Mann. Auch wenn er nicht genug Erfahrung mit der Leitung der Vertriebsabteilung hatte, konnte er viele neue Ideen in die Firma einbringen. Wie immer vertraute Sergey ihm voll und ganz. „Mein Grundprinzip ist es, meinen Leuten zu vertrauen”, betonte er viele Male während des ersten Meetings. Und das stimmte auch. Sergey sah großes Potential in Alexander, verzieh ihm viele Fehler und half ihm so, richtig gut in seiner neuen Position zu werden.

Bis zum letzten Moment. Vor einer sehr wichtigen Jahresversammlung mit den Stakeholdern arbeiteten alle Top-Manager in Sergeys Firma besonders hart. Es wurden viele Berichte benötigt und Alexander war für den Umsatzbericht zuständig.

Eine Woche vor der Jahresversammlung

„Alexander, wo ist dein Bericht? Du weißt doch, dass es sehr wichtig ist, ihn gut vorzubereiten?”, fragte Sergey ihn eine Woche vor der Versammlung.
„Keine Sorge, Chef. Ich arbeite daran und bereite großartige Diagramme und Tabellen vor”, war Alexanders Antwort.
„Okay, ich vertraue dir!”

Nach dieser Woche

„Alexander, ich habe immer noch nicht deinen Bericht erhalten. Du weißt, dass wir ihn morgen früh präsentieren müssen und jetzt ist es schon 18 Uhr.”
„Ich schicke ihn dir in einer Stunde, Chef.”

Fast 22 Uhr

Endlich bekam Sergey die E-Mail mit dem Bericht. Er war grauenvoll. Keine Grafiken, keine Diagramme. Die Zeitangabe für die Erstellung des Dokuments war 20 Uhr. Es waren alles schamlose Ausflüchte.

Sergey aber verlor noch nicht die Hoffnung und wollte herausfinden, was passiert war – weil er seinem Manager vertraute. Er antwortete auf die Mail: >„Alexander, was ist passiert? Hattest du zu wenig Zeit oder weißt du nicht, wie man so etwas macht? Sag mir bitte Bescheid, ich helfe dir gerne.”

„Bitte, ich flehe dich an, entlasse mich von dieser Position!”, war seine Antwort. Das war ein Vertrauensbruch.

Jetzt frage ich euch, meine Leser und Vertrauensexperten, was haltet ihr von Sergeys Einstellung zu Vertrauen?

  • War es ein Fehler, seinen Leuten direkt so viel Vertrauen zu schenken?
  • Wenn es ein Fehler war, was sollte er in Zukunft tun, um das zu vermeiden?
  • Was würden Sie tun, um das Vertrauen in einer solchen Situation wieder herzustellen?

Wie würden andere Experten reagieren?

Natürlich weiß ich nicht, wie jeder Leser diese Fragen beantwortet. Wie man es aber schaffen kann, solche Situationen zu verhindern und wie es möglich ist einen Vertrauensbruch wieder zu kitten oder auf wechselnde Anforderungen und Überforderung zu reagieren, war bereits mehrfach ein Thema der agile100 Konferenz, wo sich agile Experten mit diesen Themen beschäftigten.
Tricia Broderick sprach zum Beispiel auf der agile100 im Juni 2020 über einen Ausweg vom Drama hin zum Konflikt. Also wie es möglich ist, wieder auf eine neturtalere und vor allem direkte Kommunikationsebene zu kommen.
Konstruktive Diskussionen waren auch Grundlage der Session von Agile Academy Trainer Chris Li bei seinem Beitrag über "Teamwork". Zudem beschäftigte sich Melissa Boggs mit der Komplexität agiler Führung und brachte auch hier die Themen Courage, Empathie und Kreativität ins Spiel, wenn es darum geht ransparenz und Vertrauen zu schaffen.

Zudem gibt Tricia Broderick im Blog von Growing Agile ein paar Tipps, wie man mit Konflikten umgehen kann:

  1. Bitten Sie denjenigen, der sich beschwert hat, in Ruhe alle Gründe aufzuschreiben, die ihm einfallen, warum die andere Person gewisse Dinge getan haben könnte. Dafür kann man dieses Format verwenden:
    – Was hat die Person getan?
    – Wie hat sich das auf Sie ausgewirkt?
    – Warum hat die Person das getan?
  2. Wenn derjenige mit einer Liste negativer Punkte zurück kommt, bitten Sie ihn, über positive Gründe nachzudenken, warum die andere Person so gehandelt haben könnte.
  3. Nun soll er sich den wahrscheinlichsten Grund heraussuchen. Mit etwas Abstand und einer anderen Perspektive wird er hoffentlich erkennen, dass es auch einen positiven Grund für etwas geben kann, auch wenn es eine andere Auswirkung auf ihn hatte.
  4. Jetzt fragen Sie, was man tun könnte. Viele Leute werden dann nämlich neugierig, was die wirklichen Gründe sind und können nun besser darüber sprechen – und das häufig ohne Ihre Hilfe als Mediator.

Denken Sie daran, dass dieser Prozess den Konflikt nicht löst. Er veranlasst jedoch denjenigen, der mit etwas unzufrieden ist, das Problem aus einer anderen Perspektive zu betrachten und offener für die Sichtweise anderer Personen zu sein.

Dieser Text stammt aus dem Blog von In Team We Trust und wurde von uns ins Deutsche übersetzt.

Lerne von den Experten der Agile Academy

Für Scrum Master bieten wir folgende Trainings und kostenlosen Fortbildungsmöglichkeiten:

Wenn du tiefer in die Materie des Agile Leaderships einsteigen willst, empfehlen wir dir unsere Führungskräfte-Zertifizierung zum Agile Leader.

Mehr zu diesem Thema

Was ist ein Expert Leader?

Als Expert Leader bezeichnet man die Art von Führung, die immenses Fachwissen voraussetzt. Führungsexperten überzeugen

Development Team

Das Development Team ist ein aus etwa 3-9 Personen bestehendes selbstorganisiertes Entwicklerteam innerhalb eines Scrum Teams.

Collaboration Games

Wie funktionieren die sog genannten Collaboration Games in der PRaxis und welche Arten von kollaborativen Spielen gibt es? Wir erklären es im Lexikon!